Peter-Jörg Splettstößer

Eröffnungsrede in der Galerie Wewerka

Die Ausstellung, die wir heute Abend eröffnen, gibt den Blick auf das Werk eines Künstlers frei, dessen Bilder und Objekte nicht nur als autonome Kunstwerke beachtenswert sind, sondern dessen Vorgehen auf dem Weg zu diesen Ergebnissen gleichfalls einiger Worte bedarf.
Peter-Jörg Splettstößer, der in Worpswede ansässige Künstler mit wechseln­den Ateliers in den Großstädten Europas, hat sich seit langem in eine profunde Auseinandersetzung mit den künstlerischen Medien vertieft. Mit ihrer Hilfe hat er die Subjektivität der Wahrnehmung an Beispielen erforscht und thematisiert – die eigene wie die des Betrachters. Diese Recherche liegt der Entwicklung aller Werkgruppen zugrunde, von denen hier einige bei­spiel­haft angeschnitten sind.
Anhand einer Folge erst vor kurzem entstandener Papierarbeiten mit dem Titel Palmgracht 74 F, der sich auf die Adresse seines Amsterdamer Ateliers bezieht, von denen einige hier gezeigt werden, lassen sich die bildnerischen Prinzipien Peter-Jörg Splettstößers ansatzweise erläutern. Wir stehen vor mittig eingeschnittenen Papierbahnen. Neben den Schlitzen verlaufen seit­lich versetzt in Länge und Breite vergleichbare farbige Linien. Was hat es damit auf sich?
Splettstößer klebte übereinander angeordnete Sprossenfensterfelder bis auf einen regelmäßigen Spalt in der Mitte ab und gab unmittelbar da­neben das wieder, was er sah: nämlich ein zum Teil gleich bleibendes, zum Teil in ständiger Veränderung begriffenes Bruchstück der Realität; ein parkendes Auto etwa wird als Farbfleck wahrgenommen, der dann wieder ver­schwin­­det, den Bruchteil von Sekunden lang nimmt der Beobachter die Ge­stalt eines Passanten wahr. Er registriert, stenographiert und addiert die Ein­­drücke von Augenblicken ohne auf exakte Darstellung bedacht zu sein. Visuell kommentiert er so Montaignes Satz »Les yeux ne voient rien en derrière«, der auf die Ausschnitthaftigkeit unseres Sehvermögens anspielt.
Fenster spielen in der Malerei zu allen Zeiten als Lichtquelle und Motiv eine wichtige Rolle, als Symbol oder kompositorisches Element; »fast alles, was nicht reine Landschaft ist oder Portrait, ist unter dieses Thema subsumierbar.«1 Leon Battista Alberti nannte bereits im 15. Jahrhundert den Bilder­rahmen ein Fenster, durch welches der Betrachter auf eine vom Künstler subjektiv gestaltete Welt blickt.2 Splettstößer deutet auf ein Geschehen außerhalb seines verdunkelten Ateliers hin, an dem er nicht teilnimmt und von dem er nur schwer deutbare Fragmente erfährt und vermittelt. Seine vertikalen, an den jeweils rechten Rand der Schlitze im Papier angelehnten Malereien erscheinen abstrakt. Zugleich sind sie ebenso unmittelbare wie unreflektierte Zusammenfassungen einer aus der individuellen Isolation des – einer Camera Obscura vergleichbaren – Raumes heraus gedeuteten Öffentlichkeit, der optischen und akustischen Realität. Cicero sprach von jenen Teilen, die gleichsam »Fenster der Seele« sind, und meint damit die imaginäre, der Phantasie entsprungenen Vision von einer Aussicht.3 Splettstößer verzichtet auf die Nachahmung der Aussicht oder eine illusio­nistische Darstellung davon, vielmehr beschränkt er sich darauf, sparsame Strukturen zu liefern, aus denen wir Betrachter über das Innen und die Außenwelt zu lesen vermögen, wenn wir es denn wollen.
Vergleichbar sind diese Arbeiten mit vor einigen Jahren ausgeführten Male­reien, mit denen Splettstößer unmittelbar auf fotografische Vorlagen rea­gierte. Abbildungsfrei scheinen diese Tafeln, der Künstler beschränkt sich auf eine Ableitung vorgefundener Werte, deren subjektiv empfundene Wirkung er mit wenigen Farben oder besser, mit abgestuften Farbtönen auf­greift. Er übersetzt Informationen von Fotografien – von Eugène Delacroix in einem 1854 abgefassten Brief als »greifbare Demonstrationen für das Zeichnen nach der Natur« beschrieben, »von dem wir bislang nur höchst unvoll­kom­mene Vorstellungen besitzen,«4 – in malerische Gesten. Diese sorgsam ge­setzten, zarten Notationen und nuancierten Farbschichten verwachsen zu einer völlig unabhängigen optischen Information.
Splettstößer bedient sich unterschiedlicher Medien, um zu einer autonomen Lösung zu gelangen, bei deren Betrachtung die Entwick­lungsgeschichte zu kennen interessant, aber auch ver­zichtbar ist. Immer geht es ihm dabei um die Thema­tisierung des Lichts. Er schrieb: »Licht, Farbe, Raum, Energie sind mit dem Gegenstand, dem Träger dieser wahrzunehmenden Phänomene und Vorstel­lungen ver­knüpft, so daß Farbe nicht ohne Licht und Licht nicht ohne Farbe und Licht nicht ohne Raum, ohne Energie ge­sehen werden können. Raum ... (wird) zu einem energetischen Raum.«5 Einem Raum, in den das Kunstwerk eingreift, formulierend – wie Splettstößer schreibt, und dabei einerseits an den konkre­ten, architektonisch bestimmten Raum denkt, aber auch an jenen, »der über diesen hinaus gedacht werden könnte.«6
Auch einem bedeutenden Werk der Kunstgeschichte näherte sich Splett­stößer auf diese Weise an, als er Michelangelos Weltgericht, das Altarwandfresko der Sixtina, berühmt nicht zuletzt aufgrund seines komplexen Bildaufbaus, dekomponierte. Zur Vorbereitung der 1998 in Rom be­gonnenen Werk­gruppe »Fragmente« fügte Splettstößer jeweils zu Quadraten geschnittenen Reproduktionen gewisser Bildpartien zu Streifen und Reihen und reagierte malend auf die jeweils neben der Malfläche positionierte Vorlage, um, in­dem er Verläufe und Anordnungen erfasste, dem Geist der Gesamt­struktur zu entsprechen. In sich durch Kraftlinien bewegte Menschen­knäuel provozieren dynamische Steigerungen im Bild­raum, doch bleibt wenig von der dramatischen Plastizität des Urbildes. Zurückhaltend, sanft, transparent, meditativ wirkt Splettstößers rezeptive Malerei, inspiriert vom rasen­den Bewegungsablauf, der Figuren-Dichte und den intensiven Farb­la­gunen, doch immer unter Verzicht auf eigene Emotion rational kalkuliert.
Die »Fragmente« sind beidseitig mit Leinwand bespannt und erlangen so dreidimensionalen, haptischen Charakter, wie beinahe alle Arbeiten Splettstößers. Auf andere Weise stellt sich sein Arbeitsprinzip bei den beiden zweiteiligen Wandobjekten dar, die Splettstößer zeitlich parallel zu den Malereien schuf. Zunächst ein unbetiteltes Diptychon, bestehend aus einem mit Rohleinwand bespannten quadratischen Holzkörper und dem zugeordneten Bronze-Abguss (S. 39) eben dieses Objektes, dann die Kombination zweier Dreiecke, mit denen ebenso verfahren wurde, nur daß die Leinwand mit verschiedenen Tuschen bearbeitet wurde. Vorbild und Nachbildung sind auf den ersten Blick kaum als solche zu erkennen. Erst beim näheren Hinsehen entfaltet die basale Materialität ihre Wirkung. Es entwickelt sich ein dialektisches Spannungsverhältnis zwischen den beiden jeweils miteinander und ihrerseits gemeinsam mit dem Umfeld kommunizierenden Ele­menten, obwohl oder weil ihre differenzierten Binnenflächen in sich ruhend aus sich heraus funktionieren – still und doch nachhaltig.
Von hoher Sensibilität und zugleich konzeptuell anspruchsvoll sind all diese Werke. Sie verlangen nach konzentrierter Wahrnehmung. Will man sie zur Gänze erfassen, muss man sich auf ihre subtile Intensität einlassen.
Ich will Sie nun nicht länger von der Sichtung der Ausstellung abhalten und wünsche Ihnen einen angenehmen Abend.

Dr. Jürgen Schilling
Berlin, 6 November 2002

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1 Petra Kipphoff. Zum Sehen geboren. In: Die Zeit, Nr. 22, 21. Mai 1976
2 vgl. Heinz Peters. Blick aus dem Fenster. Fensterbilder des 19. und 20. Jahrhunderts. Kalender-Vorwort. Frankfurt 1981
3 »eas partes, quae quasi fenetrae sint animi«
4 Eugène Delacroix. Vgl. Erika Billeter. Zur Vor- und Frühgeschichte der Photographie in ihrem Verhältnis zur Malerei. In: Erika Billeter. Malerei und Photographie im Dialog. Bern 1979, S. 12
5 Peter-Jörg Splettstößer. Lichtformulierungen. Typoskript. Bremen 2001, s. p.
6 ebd.

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Ohne Titel I, 1991    

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Ohne Titel 10, 1997  

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Fragment 4, 1999