Arbeiten auf Papier, 2010
Kolonnen von Wörtern bilden bei Charles Vreuls ein ornamentales Band. Meist reihen sie sich dicht aneinander oder fließen zusammen, so dass sie kaum zu lesen sind. An lichteren Stellen lässt sich entziffern: »ich«, »werde«, »nie«, »nicht«, »niemals«. Kein fortlaufender Text ist notiert. Wörter und Satzpartikel kehren vielmehr in unregelmäßiger Folge wieder. Die Zeilen schichten sich zu einem verschlungenen grafischen Gewebe auf, zu einer skripturalen Fläche mit plastischer Präsenz. Manchmal nimmt die Formation die Dichte einer Mauer an, einer Mauer mit Rissen, Verwerfungen, Brüchen und Löchern.
Vreuls füllt seine Zeichnungen mit einer Suada der Verneinung. Den Impuls für die Serie gab Herman Melvilles Erzählung Bartleby, der Schreiber. Ein Anwalt schildert darin die merkwürdige Entwicklung eines Angestellten seiner Kanzlei. Anfangs kopiert dieser zurückgezogen und eifrig Verträge. Als ihm eine andere Tätigkeit aufgetragen wird, kommt es zu einem Bruch. Bartleby lehnt die Aufgabe ab. Dann zieht er sich auch aus seinem Kerngeschäft zurück und reagiert auf alle Versuche, ihn zu seinen Pflichten zu rufen, mit der gleichen, nur minimal variierten Formel: »Ich würde vorziehen, das nicht zu tun.« Die ebenso standhafte wie unerklärliche Verweigerung führt nicht zur Entlassung des Schreibers, sondern zu erheblicher Verwirrung seines Chefs. Der untätige Bartleby nistet sich im Büro ein, treibt den Anwalt zum Auszug, wird schließlich doch mit Polizeigewalt deportiert und treibt seine Abkapselung von allen Aufträgen und Absprachen im Gefängnis mit der Verweigerung von Nahrung auf die Spitze. Eine winzige biografische Notiz hebt die Erzählung auf die Ebene eines existenzialistischen Dramas. Bartleby soll in einem Büro für ›dead letters‹, für unzustellbare Briefe gearbeitet haben. Leben werden darin in Gestalt vergeblicher Ansprachen und Mitteilungen entsorgt.
Vreuls übersetzt den Schauplatz und Grundzüge der Handlung sowie das Psychogramm des merkwürdigen Protagonisten und die Aufstörung der Bürorationalität auf mehreren Ebenen. Das fortlaufende Schriftband verweist auf die Mechanik der Kopistentätigkeit. Die aufgetürmten Zeilen in ihrer Grauabstufung lassen an die tristen Fassaden der Wall Street-Architektur und den nahezu lichtlosen Arbeitsplatz des Schreibers denken. In die abgeschlossene Angestelltenwelt, von objektiven Zwecken bestimmt, mischt sich eine Partisanenhaltung.
In ebenso mechanischer Stetigkeit meldet sich das Ich mit Verneinungsformeln. Der Inhalt der Wörter reibt sich am eintönigen seriellen Arbeitsprozess. Der Schreibfluss bricht nicht vollständig ab, doch der Text nimmt in den Blättern verschiedene Verläufe und Formen an. Zeilen biegen sich, lassen somit Lücken, Inseln von Weiß brechen den Wörterkontinent auf. In die lineare Buchstabenfolge als Widerhall der Schreibmechanik mischt sich durch Fehlstellen und Lichteinfälle ein anderer Puls, eine Körperlichkeit, die den Anspruch des Individuums gegenüber der Zweckrationalität repräsentieren könnte.
Zugleich lassen sich die offenen Stellen als Verweise auf die verschiedenen Deutungsebenen verstehen, die dieser an kafkaeske Situationen erinnernde Text nahelegen könnte. Die Reibung stiller, im Ausagieren gehemmter Individualität an einer grauen Welt der Sachzwänge ist durch die Vielschichtigkeit der Schrift selbst repräsentiert. Der Kopist könnte für den Schriftsteller stehen, der seine kritische Haltung standhaft fortschreibt, allerdings gegen Wände anformuliert. Die einzelnen Buchstaben und Wörterbänder lassen sich als seismografische Protokolle, aber auch als kompositorische Setzungen verstehen. Damit kommt das Geschäft des Zeichners als Nachzeichnung, Aufzeichnung und freier Entwurf ins Spiel, eine Pendelbewegung zwischen Linie und Fläche, Kontur und Geste, Zeicheninhalt und Zeichenkörper, Rückzug und Entäußerung.
Dr. Rainer Beßling
Kulturjournalist, Syke